Repressiver Liberalismus
Vom Ende eines Jahrzehnts und dem Traum einer schweigenden Mehrheit

Mitunter gibt es gute Gründe, die politische Zeitrechnung von der streng kalendarischen abweichen zu lassen. Elementare Ereignisse oder der Wechsel gewisser Grundstimmungen sind dann hilfreicher zur Erfassung von Epochen. Wir kennen die Rede vom „langen 19. Jahrhundert“, das mit der Französischen Revolution 1789 verfrüht beginnt und mit dem Ersten Weltkrieg 1914 bzw. 1918 verspätet abgeschlossen ist. Es folgt darauf das „kurze 20. Jahrhundert“, das mit dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution 1917 anbricht und mit dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989/1990 endet.

Das politische Jahrzehnt

Ähnliches könnten wir über das vergangene Jahrzehnt sagen, wenn wir bei der politischen Rechten einige überregionale Phänomene zu einer kurzen Ära verdichten. So formieren oder reformieren sich bereits ab den späten 2000er Jahren diverse rechtspopulistische Parteien. In Österreich gibt es zu dieser Zeit sogar zwei: die FPÖ unter dem damals jungen Heinz-Christian Strache und die Abspaltung BZÖ unter dem gereiften Erfinder des Rechtspopulismus, Jörg Haider. Mit dem Tod Haiders 2008 stirbt auch seine Neugründung, die FPÖ wird wieder zur alleinbestimmenden rechtspopulistischen Kraft. Nach etlichen Jahren des stetigen Wachstums in der Opposition geht sie 2017 hoffnungsvoll in eine Regierungskoalition mit der ÖVP. Die Euphorie der „bürgerlichen“ Akteure lässt sie von einem Vorhaben reden, das gleich auf zwei Legislaturperioden angelegt sei. Kurze Zeit später wird klar: Es hat nicht einmal für eine gereicht. Personalschwäche seitens der FPÖ, der politische Kannibalismus der ÖVP, angebliche Skandale um Kontakte der FPÖ zu „Identitären“, aber vor allem die sogenannte „Ibiza-Affäre“ beenden die Wende nach rund eineinhalb Jahren Regierungszeit. Die ÖVP geht gestärkt aus dem folgenden Wahlkampf hervor und findet in den Grünen einen neuen Beiwagen. All das wirft die FPÖ in eine veritable Sinnkrise, nicht zuletzt weil ÖVP-Chef Kurz es verstand, das FPÖ-Kernthema Migration zu seinem eigenen zu machen. Im Laufe der Corona-Krise, die es westlichen Regierenden erlaubt, sich als erfolgreiche Krisenmanager zu inszenieren und jede Opposition überflüssig erscheinen zu lassen, verfestigt sich die Bedeutungslosigkeit der FPÖ.

Parallel zum Entwicklungszeitraum der Strache-FPÖ gründet sich in den Niederlanden, nach dem politischen Mord an Pim Fortuyn, eine neue rechtspopulistische Partei. Es ist die PVV unter Geert Wilders, die nach einem anfänglichen Wachstum auf über 15 % bei landesweiten Wahlen (2010) in den letzten Jahren eine Mischung aus Unstetigkeit und teilweise deutlichem Abschwung bei Wahlen erlebt. Und auch in anderen Ländern kommen Rechtspopulisten auf. Das gilt etwa für die BRD, wo sich ab 2012 die AfD formiert, auch wenn sie erst in den Folgejahren ein typisch rechtspopulistisches Profil entwickelt. Ihre Entstehung verdankt die Partei wohl der Euro-Krise, aber erst die Asylkrise 2015 ermöglicht eine Etablierung in den westlichen Bundesländern bei etwa 10–15 %. Im Osten konnte die AfD zuletzt sogar 30 % erreichen, doch bundesweit kommt sie nicht viel über die Westergebnisse hinaus.

In den USA kommt der Rechtspopulismus noch einmal verzögerter — und wohl in der einzig denkbaren Variante des doch recht starren Zweiparteiensystems. Donald Trump sorgt für eine unerwartete Entwicklung innerhalb der etablierten republikanischen Partei. Er und sein Rasputin Steve Bannon zwingen der Partei ein bis dato nicht gekanntes und vom Apparat offenbar auch nicht gewünschtes rechtspopulistisches Profil auf. Bereits der innerparteiliche Vorwahlkampf ab 2015 sorgt für eine beispiellose Euphorie in der US-amerikanischen Rechten und schließlich passiert 2016, was kaum jemand erwartet hatte: Trump wird US-Präsident. Doch auch hier tritt rasch Ernüchterung ein, zumindest in den Reihen der „dissidenten“, „alternativen“ oder „neuen Rechten“. Bannon wird bald wieder entfernt und Trump kann seine Versprechen kaum einlösen. Teils hat es sogar den Anschein, als knüpfe er an die Neocon-Politik der Vorgängerregierungen an.

Die Liste an rechtspopulistischen Parteien, die in diesem großzügig gedachten Jahrzehnt einen gewissen Zyklus durchlaufen haben, ließe sich leicht fortsetzen, doch wenden wir den Blick auf rechte, außerparlamentarische Akteure. In Italien kommt mit der „Casa Pound“ (CPI) eine neue Organisation der radikalen Rechten auf. Als subkulturelle Gruppierung versucht man einen anderen Lebensstil, einen „Faschismus für das dritte Jahrtausend“ zu prägen und tritt ab 2013 auch als Wahlpartei an. Die Wahlerfolge sind, ob alleine oder auf Listen mit etablierten Parteien, äußerst bescheiden, was 2019 dazu führt, dass man den parteipolitischen Weg für beendet erklärt. Zusätzlich kann oder will man der wachsenden Repression der letzten Jahre durch die Stadt Rom nichts mehr entgegensetzen. Die besten Jahre der CPI scheinen vorerst vorbei zu sein.

Eine andere Bewegung formiert sich 2012. Es ist die einstige Jugendorganisation des französischen „Bloc Identitaire“, die nunmehrige „Generation Identitaire“ (GI). Sie findet in den Folgejahren in zahlreichen europäischen Ländern Nachahmer, etwa in Tschechien, Slowenien, Ungarn, Dänemark und Großbritannien. Für die BRD und Österreich ist es die „Identitäre Bewegung“ (IB). Obwohl die GI/IB ideologisch aus der Nouvelle Droite bzw. Neuen Rechten stammt, versteht sie sich von Anfang an als Sammelbecken all jener, die den gewaltlosen Kampf gegen die Ersetzungsmigration befürworten. Bis auf eine klar ablehnende Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus werden alle anderen weltanschaulichen Aspekte für sekundär erklärt. Verbindlich ist der patriotische Minimalkonsens, also die Abwendung des „Großen Austauschs“ mit Mitteln der Metapolitik, konkret: Bewusstseinsbildung durch „zivilen Ungehorsam“. Die IB will im Anschluss an Gene Sharp und Srđa Popović mit einer „Politik der gewaltlosen Aktion“ die Thematik auf die Straße, in die Medien und letztlich in die Köpfe der „schweigenden Mehrheit“ bringen. Mit Götz Kubitscheks Kurzzeitprojekt, der „Konservativ-subversiven Aktion“ (KSA; eine Anlehnung an die „Subversive Aktion“ der bundesdeutschen Prä-68er-Bewegung) sowie den in seinem Kaplaken-Bändchen „Provokation“ festgehaltenen Überlegungen, steht der IB in der BRD und in Österreich eine weitere Blaupause zur Verfügung.

Provokation und Repression

Die Ausgangslage für die Identitären ist einigermaßen klar: Mit dem politmedialen Komplex, der den Großen Austausch hinnimmt, befürwortet oder vorantreibt, hat man es mit einem übermächtigen Gegner zu tun, der ungleich mehr Ressourcen zur Verfügung hat als einige Hundert Aktivisten. Es bleibt also nur die kalkulierte Provokation, um das eigene Anliegen in die Mainstream-Medien zu tragen. Es ist ein politisches Schauspiel Marke „David gegen Goliath“. Die IB betritt dabei eine Bühne, die sie eigentlich nicht betreten dürfte, nämlich die Bühne des etablierten politmedialen Betriebs. Dort schickt sie sich an, den Akteuren des Großen Austauschs dann und wann die Maske herunterzureißen, um den Zusehern, also dem Volk, eine Tatsache vor Augen zu führen, die gerne verharmlost, verschwiegen oder einfach umgedeutet wird.

Das Establishment und mit ihm der Staat, als letzte Instanz unter seinen Herrschaftsinstrumenten, haben nun grob zwei Möglichkeiten zur Reaktion: Duldung oder Repression. Duldung hieße Hinnahme der Provokationen, den Gegner nicht von der Bühne entfernen und ihm damit wie anderen oppositionellen Akteuren, etwa jenen der politischen Linken, gleichartige Möglichkeiten einzuräumen. Das würde allerdings eine politisch-inhaltliche Auseinandersetzung notwendig machen, weil der Herausforderer sonst sukzessive das eigene metapolitische Narrativ, die liberale Agenda, beschädigt. Doch zu einer solchen Auseinandersetzung ist der Liberalismus schon lange nicht mehr in der Lage, teils weil er es aufgrund einer immer noch festen Machtbasis nicht notwendig hat, teils weil er relativ rasch in Argumentationsnotstand geriete. Konkret: Der Liberalismus hat seine Zeit der großen Strahlkraft bereits hinter sich gelassen. Das liberale Establishment ist viel zu müde, um den Gegner in der Sache zu stellen. Mehr als als sozialer Druck und Phrasendrescherei ist nicht mehr. Das sagt natürlich noch nichts über die Halbwertszeit der liberalen Systeme insgesamt aus, bloß über ihre Phase im Lebenszyklus.

Also bleibt den Etablierten noch der Weg der Repression. Medial bedeutet das eine denkbar negative Berichterstattung: vom Umdeuten, „Reframen“ von Handlungen der oppositionellen Akteure – Stichwort: Lügenpresse – bis hin zum Verschweigen, vor allem bei Angriffen auf die oppositionellen Akteure selbst – Stichwort: Lückenpresse. Im privatwirtschaftlichen Bereich werden Verträge gekündigt, im Netz üben Quasi-Monopolisten Druck mit „Deplatforming“ aus. Im staatlichen Bereich werden die Akteure mit Zwangsmitteln der Exekutive und Judikative überhäuft, auch wenn sich der Einsatz regelmäßig, aber sehr viel später, als ungerechtfertigt herausstellt. Zumindest in Österreich agiert das Establishment geschlossen: was Ermittlungsbehörden bei illegalen Razzias mitnehmen, landet früher oder später bei Parteien, Medien und der Antifa, die den sanften Terror besorgt — eine sehr praktische Arbeitsteilung, weil direktes staatliches Handeln in diesem Bereich das liberale Narrativ arg beschädigen würde. Liberalismus ist ja nach gängiger Definition das Gegenteil jedes Totalitarismus. Die Politik zieht außerdem unmittelbar mit legislativen Mitteln die Daumenschrauben von Straf- und Verwaltungsrecht an — Stichwort: Anlassgesetzgebung. Diese Fülle an repressiven Maßnahmen, die real gegen die Identitäre Bewegung in der BRD und Österreich zum Einsatz kamen, blieben dem aufmerksamen Beobachter nicht verborgen, wobei man annehmen muss, dass man in der Außenansicht gar nicht alles wahrnehmen konnte.

Berechtigt kann man nun fragen, wieso diese Art der Repression in einem liberalen System überhaupt möglich ist, insbesondere wo sie doch die oppositionellen Akteure von links und rechts in völlig ungleicher Intensität trifft. Wieso konnte die Konservativ-subversive Aktion nicht das Gleiche tun wie die Subversive Aktion vor 1968? Wieso hat die Identitäre Bewegung andere Voraussetzungen vorgefunden als die APO ab 1968, obwohl sie bei weitem nicht so radikal ist? Die Antwort ist einfach: weil es eben nicht mehr 1968, sondern nach 1968 ist. Der Liberalismus hat seit dieser Zeit eine entschieden politischere Wendung erfahren und zwar durch die 68er-Bewegung selbst. Was die politische Rechte betrifft, verhält sich der (links-)liberale Staat nach 1968 nicht mehr permissiv, sondern durchaus im Sinne Herbert Marcuses repressiv. In Marcuses berühmtem Text über die „repressive Toleranz“ (Herbert Marcuse: Repressive Toleranz. In: 1968. Eine Enzyklopädie, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/Main 2004, S. 143–164) lädt er den Liberalismus mit rhetorischen Taschenspielertricks politisch auf: Es gehe nicht mehr um undifferenzierte Toleranz, sondern Toleranz ist nur dort möglich, wo sie der Sache des Fortschritts dient, also sicher nicht bei Rechten. Die jetzige Toleranz des Systems sei „repressiv“, weil sie nicht zwischen „fortschrittlichen“ und „reaktionären“ Akteuren unterscheide. Das liege quasi an einem totalen Verblendungszusammenhang der Altliberalen, ihrer Unmöglichkeit „out of the box“ zu denken und es erlaubt daher, gegen die liberalen Machthaber gerade deshalb vorzugehen. Die heute vollends verinnerlichte Parole „Keine Toleranz der Intoleranz“ ist die Quintessenz von Marcuses Aufsatz. Natürlich hatten die 68er auch kein ganz einfaches Spiel und ebenso mit Widerstand zu rechnen, aber er war ungemein ungelenker und unpolitischer. Außerdem gab es 1968 doch bereits metapolitische Zuspieler im Establishment, ob in den Medien („Der Spiegel“ usw.) oder in gewissen Teilen der Professorenschaft („Frankfurter Schule“ uvm.). Das ist heute und umgekehrt nicht einmal ansatzweise der Fall.

Nun bleibt noch die Widerstandsdoktrin nach Sharp und Popović, die „Politik der gewaltlosen Aktion“, die so manche liberale Revolution in Schwellenländern bewirkt hat. Wer jedoch denkt, dass diese Methode einfach nur das ist, was sie selbst vorgibt, der denkt vermutlich auch, dass Mark Zuckerberg Facebook mit einer paar Freunden in einer Garage entwickelt hat. Der Popović-Ansatz lebt mindestens von zwei Voraussetzungen, die bei einer rechten Opposition im Westen nicht gegeben sind. Einerseits fehlen die milliardenschweren „Philantropen“ im Hintergrund, die erst einmal die finanziellen Sorgen verschwinden lassen und das ist nicht wenig. Andererseits haben die westlich orientierten Oppositionsbewegungen eine metapolitische Basis und einen realpolitischen Rückhalt von höchstem Rang hinter sich: die NGOs und die Regierungen des Westens. Das ist eine Tatsache, die keine rechte, antiglobalistische Bewegung vorweisen kann. Es gibt keinen nicht-westlichen Akteur, der eine patriotische Opposition im Westen unterstützt. Für unsereins gibt es kein „Hinterland“, die Front ist überall.

So unelegant die Methode der Repression auch sein mag, sie funktioniert. Dass das in der BRD und in Österreich besonders gut funktioniert und in Frankreich graduell weniger, liegt vielleicht an der Mentalität. Was unter Deutschen ein ausgeprägter Hang zum Konformismus bis hin zur Selbstaufgabe und zum Selbstbetrug ist, ist bei Österreichern eine tief sitzende Obrigkeitshörigkeit und ein ganz grundsätzliches Bedürfnis nach Ruhe und Gemütlichkeit. Und damit ist auch der Traum, nämlich die „schweigende Mehrheit“ umfassend politisieren zu können, äußerst fraglich.

Die „schweigende Mehrheit“

Wenn wir zum Bild der politischen Bühne zurückkehren, dann stellt sich die Situation nun folgendermaßen dar: Im Publikum befinden sich etliche Personen, die die Problematik des Großen Austauschs bereits wahrnehmen und auch die Repression sehen. Diese Gruppe wird wohl eine Teilmenge der rechtspopulistischen Wählerschaft sein. Dann gibt es jene, die durchaus erst vermittels des Aktionismus ein Problembewusstsein für die Ersetzungsmigration entwickeln. Aber natürlich sind da auch welche, die den Liberalismus uneingeschränkt befürworten. Der größte Teil ist jedoch die sogenannte „schweigende Mehrheit“, die das Schauspiel völlig regungslos zur Kenntnis nimmt. Doch was ist überhaupt eine „schweigende Mehrheit“ und wieso schweigt sie, unabhängig davon, ob es tatsächlich eine Mehrheit oder doch nur ein größere Minderheit ist (was zumindest der Blick auf die Wahlbeteiligung und Wahlergebnisse nahelegt)?

Wir können der „schweigenden Mehrheit“ fehlendes Wissen, fehlenden Mut nach den gewonnenen Einsichten zu handeln oder schlicht Desinteresse an identitätspolitischen Themen unterstellen. Aber ist das wirklich zutreffend und was folgt daraus?

  1. Das erste Motiv wäre ein Wissensdefizit, dem man üblicherweise mit Aufklärung und Überzeugung begegnet. In diese Gruppe fallen also Personen, die bei ähnlichem Wissensstand zu ähnlichen Schlüssen kommen würden – wobei auch gleiches Wissen nicht zwingend gleiche Schlüsse bedeutet. Jedoch: Die notwendigen Informationen sind beschaffbar. Wer heute nicht in der Lage ist, die vorhandenen Informationsangebote gewinnbringend zu nutzen, wird nur schwer erreichbar sein. Der Aufwand, diese Personen dauerhaft zu einer politischen Existenz zu führen, ist entsprechend hoch.
  2. Das zweite Motiv läge im emotionalen und sozialen Bereich, was es nicht weniger rechtfertigt, sondern vielleicht noch mehr. Die mindeste Konsequenz nach seinem Wissen, nach der gewonnen Einsicht zu handeln, wäre in der Demokratie das Wählen einer konsequent migrationskritischen, folglich rechtspopulistischen Partei. Aber wieso „schweigt“ — um im Bilde zu bleiben — selbst der potenzielle Wähler in der Sache des Großen Austauschs so beharrlich? Wieso artikuliert er nicht wenigstens seine Wahlstimme adäquat? Kann es fehlender Mut sein, in einer geheimen Abstimmung — und das sind westliche Wahlen immer noch — das Kreuz bei einer migrationskritischen Partei zu machen? Ein geringeres persönliches Risiko ist kaum denkbar. Wenn Mut oder Motivation nicht einmal mehr dafür reichen, wird eine weitere Mobilisierung sehr schwer. Wir nehmen das als „Marker“ ungeachtet unserer weiterhin gültigen Ausführungen in „Volle Fahrt ins Nichts“.
  3. Ein drittes Motiv wird von politisch denkenden Menschen oft unterschätzt: Es geht um Personen, die sich politisch nicht beteiligen, weil sie grundsätzlich zufrieden sind oder gänzlich unpolitisch sind. Sie haben vielleicht eine andere Auffassung über die Wichtigkeit von Identitätspolitik und unterstützen den aktuellen Kurs aus anderen Gründen. Identität wird nicht als existenzielles Thema begriffen. Wir sehen, dass selbst einschneidende Ereignisse teils nichts an einer solchen Wahrnehmung ändern. Derlei Personen sind letztlich kaum zu erreichen. Der Übergang vom „Zufriedenen“ zum „Unpolitischen“ ist fließend. Es können auch Personen sein, die sich jeder herrschenden Ideologie anschließen, unabhängig von Inhalten. Das ist gar nicht so außergewöhnlich, wenn man bedenkt, dass die Massendemokratie des Liberalismus etwas historisch Einzigartiges ist. Und wir kennen solche Phänomene aus sozialen Gruppen generell: Es gibt einen nicht unerheblichen Anteil von Personen, die sich praktisch nie aktiv beteiligen, das heißt in Gestaltungsfragen des Sozialen nicht selbst einbringen. Es interessiert sie schlicht nicht oder sie empfinden es als nicht existenziell wichtig oder sehen sich außer Stande dazu etwas sagen zu können. Oder sie scheuen den Streit, der ja insbesondere in der gegenwärtigen Lage wieder zunimmt.

Natürlich werden in der Praxis die genannten Aspekte häufig verschränkt auftreten und auch sonst ließen sich bestimmt zahlreiche weitere Motive finden. Wo auch immer die Ursache liegt – die Gruppe der „Schweiger“ ist wohl nicht ganz klein. Und so träumen politische Akteure davon, sie instrumentalisieren zu können. Aktivisten träumen von der Aktivierung einer „schweigenden Mehrheit, die im Volke schlummert“ und Parteien träumen von der Mobilmachung der Nichtwähler, die zudem unentschieden und noch beeinflussbar erscheinen – was jedoch auch nur eine Annahme ist. Über diesen Hoffnungen wird vergessen, dass die Gruppe der Nichtwähler wahrscheinlich nicht besonders homogen ist und dass — trotz jahrzehntelanger „Nichtwählerforschung“ in der Politikwissenschaft — eine Hebung dieses angeblichen Potenzials bislang noch niemandem wirklich gelang. Eine der wenigen Erkenntnisse über Nichtwähler ist die soziale Schichtung: untere Schichten neigen eher zum Nichtwählen als höhere Schichten. Neben sozial bedingten Ohnmachtsgefühlen oder geringerer staatsbürgerlicher Konditionierung aufgrund geringerer Bildung, gehören zur unteren Schicht vielleicht Personen, deren Vorfahren auch in der vormodern-ständischen Gesellschaft auf unterster Ebene angesiedelt waren und hier schlicht die Perpetuierung eines proletarischen Charaktertypus und dessen Äußerung unter modernen Verhältnissen zu sehen ist.

Aber zurück zum Wesentlichen: Wir sehen, wie bisher sämtliche Akteure an der wirklichen Mobilisierung dieses angeblichen Potenzials gescheitert sind. Konsequent betrachtet ist es für einen politischen Wandel also uninteressant. Das nüchterne Fazit: Das Reservoir ist weitgehend ausgeschöpft und weitere Erschließung ist, wenn mit hohen politischen Grenzkosten verbunden. Bereits in den 1980er Jahren warnte Alain de Benoist (Kulturrevolution von rechts, Jungeuropa-Verlag, 2017, S. 46) davor, sich mit „der Vorstellung einer ‚schweigenden Mehrheit‘“ zu beruhigen und zu meinen, dass da jenseits der etablierten Öffentlichkeit die wahre Volksseele schlummere. Der Topos der „schweigenden Mehrheit“ mag für politische Akteure motivierend sein, wenn er sich jedoch nachhaltig als nicht realitätsnah erweist, verliert er seine motivierende Kraft. Im schlechtesten Fall verstellt er sogar den Weg zu einer tiefergehenden Analyse.

Was bleibt?

Was bleibt also von diesem politischen Jahrzehnt? Wir können annehmen, dass sich etliche rechtspopulistische Parteien auf vergleichsweise niedrigem Niveau stabilisieren werden – im „Börsensprech“: die Seitwärtsbewegung wird das charakteristische Muster. So wird die FPÖ auf absehbare Zeit nicht Teil von Regierungen sein und alles spricht dafür, dass sie sich weiterhin gegenüber Reformen Richtung Metapolitik und Intellektualität als resistent erweisen wird. Ähnliches bei der AfD, die trotz teils hochkarätigem Personal (im Vergleich zur FPÖ), erhebliche Strukturprobleme im Mittelbau hat und gegenwärtig immer mehr „FPÖ-isiert“, sprich zu einer mittelmäßigen rechtspopulistischen Partei verkommt. Im Westen und im Bundestag kann die AfD maximal die anderen Parteien ärgern, allein im Osten besteht noch eine zarte Möglichkeit. Doch auch hier sollte man sich nicht von Wahlergebnissen täuschen lassen – mit 30 % ist noch kein Staat umzudrehen und der Zugang zur exekutiven Macht gelang bislang ebenso wenig.

In den USA ist die Misere erheblich fortgeschrittener. Trump hat entweder seine Wahlversprechen vergessen oder wurde von der eigenen Partei, der Opposition oder dem Deep State zu einer Kursanpassung gezwungen. Welchen Spielraum ein US-Präsident wirklich hat, wurde in den letzten Jahren offensichtlich. Selbst wenn Trump 2020 noch einmal Wahlen gewinnt, sind es doch bloß vier weitere Jahre des Bisherigen, also eine unverminderte Liberalisierung des Westens. Nach Trump ist eine Rückentwicklung der Republikaner zur Neocon-Doktrin am wahrscheinlichsten. Noch wahrscheinlicher ist, dass die Demokraten den nachfolgenden Präsidenten stellen - und zwar die neue „progressive“ Generation, nicht mehr Vertreter der Nachkriegsgeneration. Letztlich sind das alles für uns nebensächliche Themen, denn die Regierung Trumps steht sinnbildlich für das was wir bereits in „Volle Fahrt ins Nichts“ beschrieben haben: Von rechtspopulistischen Parteien kann keinerlei grundlegende Reform des politisch-gesellschaftlichen Systems ausgehen – ihr hauptsächlicher Nutzen läge in einer Unterstützung und Absicherung metapolitischer Akteure (was sie aber nicht tun).

Den außerparlamentarischen Akteuren, allen voran der Identitären Bewegung, ist in den vergangenen Jahren eines gelungen: Der Gegner wurde „bis zur Kenntlichkeit entstellt“. Er wurde demaskiert, gezwungen Zähne zu zeigen und teils zuzubeißen – obwohl das krass dem liberalen Selbstverständnis und auch dem Umgang mit der politischen Linken widerspricht. Wir wissen einmal mehr: „Ein liberaler Staat ist ein Haus mit 100 Glastüren, von denen 99 verschlossen sind“ (Robert Hepp, zit. n. Armin Mohler: Gegen die Liberalen, Edition Antaios, Schnellroda 2013, S. 6.). Wer sehen kann, der kann nun sehen und möge sehen – und wer es immer noch nicht kann, dem ist kaum zu helfen. Das Potenzial in dieser Richtung ist weitgehend abgeschöpft, aber teils auch nachhaltig politisiert worden. Jeder weitere Schritt ist nun mit hohen politischen Grenzkosten verbunden. Die parteipolitischen Akteure sind ihrer zugedachten Kooperationsrolle – wieder einmal – nicht gerecht geworden. Das heißt, die politischen Kosten können nur mit reiner Selbstausbeutung gedeckt werden. Ob das für ein paar kleine und wenig nachhaltige Erfolge lohnt, muss jeder selbst entscheiden. Insgesamt ist es den außerparlamentarischen Akteuren, von CPI bis IB, auch nicht gelungen, eine langfristige und realistische Perspektive zu entwickeln. Zu sehr waren Pragmatismus im Tagesgeschäft und diffuse Hoffnungen im Bereich der Ziele tonangebend.

Von neuen Wegen

Was nun, wenn von Rechtspopulisten nichts zu erwarten ist und die bisherigen Wege der außerparlamentarischen Bewegungen erschöpft sind? Was, wenn die „schweigende Mehrheit“ gar nicht existiert und wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass „wir“ bereits in der Minderheit sind? Vielleicht sind wir es nicht biologisch, aber politisch. Und das eine ist bloß eine Vorwegnahme des anderen. Und was, wenn das auf absehbare Zeit oder vielleicht „für immer“ so bleibt? War es das? Gilt nun „Der Letzte dreht das Licht ab“? Mitnichten. Wesentlich ist jetzt, unter den gegebenen Bedingungen neu zu denken. Wie kann man sich in einer Umgebung einrichten, wo man Minderheit ist? Das wird die Frage des kommenden politischen Jahrzehnts sein. Und für dieses kommende Jahrzehnt werden völlig reformierte oder neue Akteure gefragt sein. So wie das Establishment in den letzten Jahren eine Anpassungsleistung vollzogen hat, wird auch die rechte Opposition umdenken müssen. Es sind neue Formate, neue Wege gefragt, was zumindest in nächster Zeit vor allem eine Arbeit nach innen impliziert. Ob es noch einmal die Möglichkeit geben wird, eine Schneise ins Establishment zu schlagen, ob bei günstigen Windverhältnissen noch einmal die Segel gesetzt werden können, um mehr Fahrt Richtung Realpolitik aufnehmen zu können, wird sich weisen. Eine Reorientierung unter neuen Umständen, eine Selbstoptimierung und auch eine tiefere theoretisch-kulturelle Selbstvergewisserung, ist in keinem Fall von Schaden.

Diese Selbstvergewisserung umfasst auch eine Rückkehr zu unseren grundsätzlichen Standpunkten. Einer davon ist, dass der Liberalismus ein ursächliches Problem darstellt. Und wenn wir ihn nicht auf staatspolitischer Ebene überwinden können, dann müssen wir das tun, was viel natürlicher wäre: den Liberalismus in uns selbst überwinden. Der Nationalstaat, der ohnehin nur Usurpator unserer ethnokulturellen Identität war, ist faktisch Geschichte. Was wir heute sehen, ist bloß die Vergangenheit von morgen. Er besteht nur noch als liberale Verwaltungsorganisation. Zudem ist eine Rückführung der Einwanderer, die sich in Europa seit den 1960er Jahren niedergelassen haben, aus heutiger Sicht völlig unrealistisch (was jedoch eine weitere Voraussetzung für einen „homogenen Nationalstaat“ wäre). Vielmehr müssen wir sehen, wer von den Menschen europäischer Abstammung noch Europäer sein will und was Europäertum neben der Abstammung überhaupt bedeutet. Das ist alles andere als klar. Diejenigen, die noch Identität haben wollen, werden selbst dafür sorgen und sich zu neuen Gemeinschaften zusammenfinden müssen. Es ist auch unwahrscheinlich, dass sich eine Sichtweise davon, was Europäertum künftig ausmacht, bei allen Dissidenten gleichermaßen durchsetzt. Wir sollten mit einer Vielzahl an derartigen neuen Gemeinschaftsentwürfen rechnen. Und der Staat wird uns dabei nicht helfen, im Gegenteil. All jene, die gar keine Identität mehr wollen – und das ist eine gigantische Mehrheit – werden in dem aufgehen, was die Moderne noch zu bewerkstellen vermag.

Mit der Abwendung vom Allzugemeinen und der Hinwendung zu „uns selbst“ ist einem Rückzug ins „Private“ ausdrücklich nicht das Wort geredet, obwohl das eine tiefe Sehnsucht der Gegenwart zu sein scheint. Ein neues bürgerliches Biedermeier ist selbst unter Liberalen in Mode gekommen und wird die Machtbastion jener Regierungen zementieren, die eine Fortsetzung des Bisherigen versprechen. Dem steht innerhalb der Rechten ein scheinbar unstillbarer Durst nach restaurativen Entwürfen gegenüber. Zu dieser Ausbreitung des Reaktionären haben wir in „Die große Müdigkeit“ bereits Stellung bezogen.

Unsere Sezession muss intelligent und politisch sein. Naiv wäre eine Abkoppelung von der liberalen Gesellschaft wie sie unter Agrarromantikern udgl. verbreitet ist. Auf Technik zu verzichten hieße nicht bloß an Komfort, sondern vor allem an politischer Schlagkraft einzubüßen. Und spätestens bei einem persönlichen Ernstfall will man doch nicht auf manch Brauchbares, wie etwa die Segnungen der Spitzenmedizin oder ähnliches, verzichten. Wir müssen vielmehr die Konsequenz ziehen, die bereits jeder Liberale und viele Einwanderergruppen ohnehin gezogen haben, nämlich ein rein am subjektiven Nutzen orientiertes Verhältnis zum liberalen Staat entwickeln. Das erscheint für den „staatstragenden Konservativen“ als Sakrileg, aber für den Realisten muss es notwendige Konsequenz werden. Man wird sich zuerst dort vom staatlich-gesellschaftlichen Angebot trennen, wo es für uns besonders relevant und zugleich leichter ersetzbar ist. Die Autonomie ist nicht primär im technischen oder wirtschaftlichen, sondern im kulturellen und sittlichen Bereich anzustreben. Und es gibt noch einen weiteren Bereich, wo der Staat am Rückzug ist: bei der Garantie von körperlicher Sicherheit. Die Pazifizierung der westlichen Gesellschaften hat ihren Zenith Ende der 1960er Jahre hinter sich gelassen. Insofern werden die neuen Gemeinschaften auch diesen basalsten Aspekt jeder Gemeinschaft abdecken müssen.

Die Zukunft gehört nicht den Nationalstaaten, Parteien oder diffusen Personenmehrheiten, sondern den Clans: neuen Stämmen, neuen ethnischen Gemeinschaften. Das ist bereits in diversen westeuropäischen Regionen absehbar, allein die Europäer blenden es aus. Dort, wo neue ethnisch-weltanschauliche Gemeinschaften entstehen, neue Kultur und Sitte den Lebenshorizont bilden, da ist die persönliche und die politische Zukunft. Dort ist der Individualismus liberaler Prägung in einem neuen „wir“ überwunden. Und dort ist der Kampf nicht mehr primär gegen etwas, sondern für etwas.

6520.10.25